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Jedes Jahr im August bietet der Tag der Kalligrafie Gelegenheit, über die Schönheit, Präzision und spirituelle Tiefe des geschriebenen Wortes nachzudenken. Die Kalligrafie, die sowohl eine Kunstform als auch eine Andachtspraxis ist, verbindet Kulturen und Traditionen über Jahrhunderte hinweg. Aus diesem Anlass beleuchten wir ein einzigartiges Kapitel der islamisch geprägten Kunst: die Entwicklung der arabischen Kalligrafie in China und die Arbeit von Haji Noor Deen. Seine meisterhafte Verschmelzung von chinesischer und arabischer Ästhetik eröffnet neue Perspektiven auf die gemeinsame Verehrung der Schrift in beiden Traditionen.
Im Jahr 2023 präsentierte das Museum für Islamische Kunst vor der vorübergehenden Schließung eine Ausstellung über die Werke des chinesischen Kalligraphen Haji Noor Deen (Mi Guangjiang). Das außergewöhnliche Thema islamisch geprägter Kunst in China spricht insbesondere jene an, die sich für kulturelle Vielfalt und den Austausch zwischen Zivilisationen interessieren. Die Ausstellung zeigte anhand der Werke von Haji Noor Deen die Verschmelzung islamisch geprägter und chinesischer Kultur sowie die lange Geschichte des Islams in China.
Heute leben rund 20 Millionen Muslim*innen in China. Die größten Gemeinschaften sind die turksprachigen Uiguren in Xinjiang sowie die chinesischsprachigen Hui, die über viele Provinzen verteilt sind. Die Hui gelten als Nachfahren muslimischer Händler und Gelehrter aus West- und Zentralasien, die sich bereits im 8. Jahrhundert in China niederließen. Während der mongolischen Herrschaft kam es zu einer größeren Einwanderung von Muslimen. Mit dem Ende der Yuan-Dynastie (1271–1368) und dem Beginn der Ming-Dynastie (1368–1644) entwickelte sich eine eigenständige muslimisch-chinesische Subkultur. In Bereichen wie arabischer Kalligraphie, islamischer Literatur auf Chinesisch und Moscheearchitektur verbanden sich islamische Glaubensvorstellungen mit chinesischen Traditionen.
Die sogenannte Sini-Kalligraphie ist eine besondere Form der arabischen Schriftkunst, die Elemente der chinesischen Schreibtradition aufgreift. Der Name Sini stammt vom arabischen Wort für "China". Kennzeichnend sind fließende, geschwungene Buchstaben mit betonten, oft spitz zulaufenden Strichen. Diese Schrift wird häufig für religiöse Aussagen wie die Shahada oder den Namen Allah verwendet. Neben kalligrafischen Kunstwerken ziert sie auch Holz- und Steininschriften an Moscheen sowie Objekte aus Keramik oder Metall.
Die von Hui-Muslimen gepflegte Sini-Kalligraphie lässt sich bis zur Yuan-Dynastie zurückverfolgen. Selbst Koranabschriften und Grabinschriften aus dem 14. Jahrhundert zeigen Merkmale dieses Stils. Die kalligrafischen Werke werden oft auf feinem Reispapier mit einem Holzspatel oder einem breiten, kurzen Pinsel ausgeführt und durch chinesische Motive wie Blumen, Früchte oder Fächer ergänzt.
Obwohl chinesische Muslim:innen seit Jahrhunderten in der Sini-Tradition schreiben, gilt Haji Noor Deen Mi Guangjiang als einer der herausragenden Meister dieser Kunstform. Er vereint auf eindrucksvolle Weise Werkzeuge der ostasiatischen Kalligraphie – wie Pinsel, Tusche, Reispapier und Siegel – mit denen der klassischen arabisch-islamischen Kalligraphie, darunter Rohrfeder und Eisengallustinte. Seine Linienführung – mal dick, mal dünn, mal schnell, mal bedächtig – balanciert das Schriftbild zwischen Leere und Fülle.
Sowohl im Islam als auch in der ostasiatischen Kultur genießt die Schrift einen besonderen Stellenwert. Ein auffälliges Element in Noor Deens Arbeiten ist das Siegel – ein typisches Merkmal chinesischer Kunst, das die Identität des Künstlers und seine persönliche Handschrift symbolisiert. Es verstärkt die Originalität seiner chinesisch-arabischen Werke und ergänzt die Komposition.
Die schnell verlaufende Tusche auf Reispapier erfordert eine sichere Hand und fördert entschlossene, fließende Linien. In der chinesischen Ästhetik wird Tusche in fünf Farbabstufungen zwischen Schwarz und Weiß unterteilt. Während die arabische Kalligraphie sattes Schwarz bevorzugt, arbeitet die chinesische Technik häufig mit Trockenpinsel und farblichen Nuancen. Auffällig sind die weißen Bereiche inmitten eines Pinselstrichs – sogenannte withered brushstrokes –, die es in arabischen Kalligraphiestilen so nicht gibt.
Die Werke von Haji Noor Deen können als meditative Bilder verstanden werden. Sie laden dazu ein, sich auf eine spirituelle Reise zu begeben und inneren Frieden zu finden. Die ausgewählten Koranverse spiegeln diese Intention wider. Ein Beispiel ist die Arbeit zu Sure 2, Vers 143: „Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht.“ Die horizontale Schriftlinie symbolisiert dabei Ausgewogenheit, ergänzt durch eine harmonisch angeordnete Herzform in Rot und Schwarz.
Die Basmala (بسم الله الرحمن الرحيم) – „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen“ – ist eine der bekanntesten Phrasen im Islam. In Noor Deens Werk wird sie in Einklang mit der Natur gebracht. Inspiriert von Pflanzenmotiven kombiniert er die Worte mit dem Vers aus Sure 31, Vers 10: „Und Wir senden Wasser vom Himmel herab und lassen darauf jedes herrliche Paar wachsen.“ Durch diese Verbindung entsteht eine kalligrafisch-bildliche Einheit, die an traditionelle chinesische Blumenmalerei erinnert und eine tiefe Symbolik von Schönheit, Naturverbundenheit und Harmonie vermittelt.
Dr. Shunhua Jin forscht über die islamische Materielle Kultur in China, einschließlich chinesischer Moscheen und Handschriften. Sie untersucht auch den kulturellen Austausch zwischen Ostasien und der islamischen Welt, wobei sie ein spezifisches Interesse am künstlerischen Austausch zwischen China und dem Iran im 16. und 17. Jahrhundert hat. Sie verfasste diesen Aufsatz während eines Forschungsaufenthalts im Rahmen des Internationalen Stipendienprogramms bei den Staatlichen Museen zu Berlin (2023-2024).
Herzlichen Dank an Dr. Deniz Erduman-Çalış, Farwah Rizvi und Cornelia Weber.