Albumblatt aus dem Shahname, Ident.-Nr. I.4596 fol 5, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Ingrid GeskeAlbumblatt aus dem Shahname, Ident.-Nr. I.4596 fol 5, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Ingrid Geske

Magische Geschlechter-Fragen

Simurghs Gender im Shahname

Was erzählt das Gender eines Zaubervogels über uns Menschen? Eine Entdeckungstour durch die Welt der Perspektiven.

Bei der Redaktion des Katalogs zur Ausstellung „Iran – Kunst und Kultur aus fünf Jahrtausenden“ stolpert eine Kollegin über ein unscheinbar anmutendes Redaktions-Rätsel. Es geht um Simurgh, ein berühmtes persisches Fabelwesen; Wundervogel mit zwei Hörnern, langen Schwanzfedern und magischen Kräften, angsteinflößend und beschützend zugleich. Die Autor:innen verwenden uneinheitliche Pronomen: Mal ist von „ihren“ (Simurghs) Eigenschaften die Rede, mal von „seinen“. Welches Pronomen soll die Redakteurin für den Ausstellungskatalog einheitlich verwenden? Zum ersten Mal stellen wir uns die Frage: Hat Simurgh eigentlich ein Geschlecht?

Auf der Suche nach Antworten wandere ich ein paar Türen weiter...

... dort liegt die Bibliothek des Museums für Islamische Kunst, eine der umfassendsten ihrer Art. Zwischen den hohen Regalen und vielen Schätzen aus Papier muss des Rätsels Lösung doch irgendwo verborgen sein.

Ein zierliches Buch fällt mir in die Hände: „Drache, Phönix, Doppeladler. Fabelwesen der islamischen Kunst“ von 1993. Darin schreibt der Kunsthistoriker Joachim Gierlichs: „Der Simurgh […] entspricht dem chinesischen ‚feng-huang‘, einem der vier Zauberwesen der chinesischen Mythologie.“

Der einfache Satz wirft direkt neue Fragen auf: Wählt Gierlichs den männlichen Artikel „der“ bewusst oder unbewusst, wovon leitet er ihn ab? Worum handelt es sich bei „feng-huang“? Hat dieses Wesen ein Geschlecht? Und wie wurde daraus Simurgh? Neugierig auf Simurghs chinesische Verwandtschaft geworden, beginne ich Simurghs Vorfahren zu studieren. Ist Simurgh gar nicht so persisch, wie ich ursprünglich dachte?

Buchdeckel "Drache, Phönix, Doppeladler" in der Bibliothek des Museums für Islamische Kunst, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Laura Beusmann
Buchdeckel "Drache, Phönix, Doppeladler" in der Bibliothek des Museums für Islamische Kunst, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Laura Beusmann
Stadt Fenghuang, Xiangxi, Hunan, China, Wikimedia CommonsStadt Fenghuang, Xiangxi, Hunan, China, Wikimedia Commons

Zauberhafte Realpolitik

Auf Fenghuang-Erkundungstour im World Wide Web stoße ich auf den Sprachwissenschaftler Lyuidie Zhu und seinen Aufsatz „Fenghuang and Phoenix: Translation of Culture“. Darin schreibt Zhu: Der Zaubervogel Fenghuang verkörpert ursprünglich die Einheit zweier gegensätzlicher Kräfte: Yin und Yang, Huang und Feng – oder weiblich und männlich. Die luftige Naturgewalt Fenghuang symbolisiert in der chinesischen Tradition Macht und Tugendhaftigkeit. Je nach Epoche und Geschlecht der weltlichen Machthaber:innen wird Fenghuang ein männliches, weibliches oder binäres Geschlecht zugeschrieben: Zu Konfuzius Zeiten (ca. 500 v.Chr) männlich, zur Zeit der späteren chinesischen Kaiserinnen weiblich.

Ich schlussfolgere: Fenghuang ist sozusagen genderfluid; das bedeutet, dass sich das Geschlecht je nach Kontext und Zeit ändert. Fest steht auch: Das Geschlecht ist in Fenghuangs Kontext weder irrelevant noch willkürlich gewählt: Es hat eine politische Bedeutung.

Trifft dies auch auf Simurgh zu?

Wirkerei mit Phönix (Fenghuang) zwischen Blumen, Ident.-Nr. 1994-6, Museum für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin
Wirkerei mit Phönix (Fenghuang) zwischen Blumen, Ident.-Nr. 1994-6, Museum für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin

Pronomen-Vielfalt und Vögel-Verwirrung

Ein Blick in das Nachschlagewerk „Encylopaedia Iranica“ scheint dies zu bestätigen: Der umfassende Artikel zu „Simorg“ wechselt in einem fort die Pronomen. Mehr noch, in dem Artikel „Simorg“ scheint es um viel mehr Vögel zu gehen, als nur diesen einen: Senmurv, Sina-Mru, Saena, Simir, Sinam … Vögel aus Indien, Vögel aus Kurdistan … Mischwesen aus Fledermäusen, Hunden, Pfauen… Wie entstand daraus Simurgh?

Zurück beim Ausstellungskatalog...

...schaue ich mir die Beiträge zu Simurgh noch einmal an. Darin betritt der Vogel namens „Simurgh“ die Bühne der Weltliteratur mit dem persischen Meisterwerk des Dichters Firdausi: dem „Schahname“, auch „Buch der Könige“ genannt. In zahlreichen Sagen hält der Dichter Firdausi darin im 10. Jahrhundert Simurghs Namen, Eigenschaften und Erscheinung fest. Die kostbaren Ausgaben des Schahname beinhalten Illustrationen, die das Bild von Simurgh zeichnen, das bis heute geläufig ist: Ein prächtiger, gefährlicher farbenfroher Vogel, mit langen Schwanzfedern, Krallen und Hörnern. Wie soll ich diesem Vogel bloß das Geschlecht ansehen?

Albumblatt aus dem Shahname, Ident.-Nr. I.4596 fol 5, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Ingrid Geske

Der inzwischen erwachsene Zal bittet Simurgh um Unterstützung für seinen Sohn Rustam

Wer legt die Eier?

Als ich zwei Kolleg:innen, die auf persische Buchkunst spezialisiert sind, um Rat frage, bin ich äußerst überrascht. Ich erhalte prompt zwei identische, eindeutige Antworten. Eleanor Sims, die englischsprachige Autorin eines Simurgh-Artikels im Ausstellungskatalog, antwortet mir:

„I have to say that it has never, EVER, entered my mind that Firdausi’s Simurgh could be anything BUT female: it cares for its own young—from which, presumably, it had also laid the eggs from which they hatched; so it therefore knows to care for another dependent infant, Zal.“

("Ich muss sagen, dass es mir NIE in den Sinn gekommen ist, dass Firdausis Simurgh IRGENDETWAS anderes ALS weiblich sein könnte: Sie kümmert sich um ihre eigenen Jungen - von denen sie vermutlich auch die Eier gelegt hat, aus denen sie geschlüpft sind; sie weiß also, wie man sich um ein anderes abhängiges Kind kümmert, Zal.")

Auch der Autor des Simorg-Eintrags in der Enyclopaedia Iranica ist in diesem Fall überraschend eindeutig. Während er die Pronomen im gesamten Artikel ständig wechselt, schreibt Hans Peter Schmid im Shahname handle es sich bei Simurgh um einen "weiblichen Vogel".

Die Wissenschaftler:innen lesen Simurgh im Shahname weiblich, da diese Kreatur Eier legt und Kinder groß zieht. Doch lassen diese Eigenschaften tatsächlich auf ein weibliches Gender oder Geschlecht schließen?

Simurgh ist ein Zaubergeschöpf, dessen Fortpflanzung nicht den gewöhnlichen biologischen Reproduktions-Mechanismen von Vögeln unterliegt. Eine Befruchtung von Simurghs Eiern oder Begegnung mit einem anderen (männlichen) Simurgh ist nicht bekannt. Muss Simurgh daher weiblich sein, um Eier legen zu können? Nein.

Der entscheidende Elternteil in der Geschichte von Zal und Simurgh ist Zals Vater Sam. Sam verstößt seinen Sohn Zal und Simurgh nimmt das verstoßene Menschkind auf. Zals biologische Mutter spielt im Schahname eine unbedeutende Nebenrolle. Ersetzt Simurgh dem Sohn dann nicht vielmehr den Vater als die Mutter?

Ich frage mich, ob Simurgh tatsächlich ein weiblicher Vogel ist oder ob die Wissenschaftler:innen ihre eigenen Gender-Normen in das Zauberwesen hineinlesen. Schließlich fiel die Gender-Frage bei Simurgh nicht immer so eindeutig aus.

Buchkunst, Albumblatt aus dem Shahname, Der Held Sam holt seinen Sohn Zal vom Berg Alborz zurück, Ident.-Nr. I. 5/77, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Jürgen Liepe
Buchkunst, Albumblatt aus dem Shahname, Der Held Sam holt seinen Sohn Zal vom Berg Alborz zurück, Ident.-Nr. I. 5/77, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Jürgen Liepe

Wissenschaft im Wandel

Der deutsche Kunsthistoriker Joachim Gierlichs antwortet mir auf meine Frage, warum er in seinem Buch „Drache, Phönix, Doppeladler“ das männliche Pronomen für Simurgh verwende:

„Wie Sie dem Publikationsdatum entnehmen können, habe ich sie vor 30! Jahren verfasst. Die Gender-Frage stand damals nicht ‘auf der Tagesordnung’, zumindest nicht bei mir, womit ich ihr nicht die Berechtigung absprechen will. Fragestellungen und Bewertungen ändern sich nunmal im Laufe der Zeit. Ich denke, wenn ich noch einmal etwas zu dem Fabelwesen Simurgh schreiben sollte, würde ich die Gender-Fragestellung ansprechen."

Simurghs Gender scheint tatsächlich fluid - eine Frage von Zeit, Kontext und Perspektive. À propos Perspektive: Was denken eigentlich persischsprachige Menschen zu Simurgh?

Buchkunst, Albumblatt aus dem Shahname, Der Held Sam holt seinen Sohn Zal vom Berg Alborz zurück, Ident.-Nr. I. 5/77, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Jürgen Liepe
Buchkunst, Albumblatt aus dem Shahname, Der Held Sam holt seinen Sohn Zal vom Berg Alborz zurück, Ident.-Nr. I. 5/77, Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Jürgen Liepe

Sexy Grammatik

Ich frage meine Freundin Mojgan Lajmiri im Iran und erhalte einen entscheidenden Hinweis. Sie meint: „You know, we don’t have male and female pronouns in the Persian language, like in Arabic or German. So I think „Simurgh“ doesn’t have a sexuality in our literature“.

Anders als die deutsche Sprache gibt Persisch Raum für Mehrdeutigkeit hinsichtlich des Genders von Nomen. Eine persische Wissenschaftlerin hätte sich meine Fragen vermutlich nie gestellt, da sie in der persischen Sprache vollkommen irrelevant gewesen wären.

Mir wird bewusst, dass ich diesen Artikel nur deshalb schreiben kann, weil ich mich in einem grammatikalischen Übersetzungsdilemma der deutschen Sprache befinde. Während genderneutrale Sprache hierzulande ein Politikum ist, ist uns deutschsprachigen Menschen die persische Sprache gewissermaßen seit Jahrtausenden voraus: Sie unterscheidet grammatikalisch nicht zwischen männlich, weiblich, neutral.

Stattdessen könnte sich eine persische Wissenschaftlerin ohne Umwege mit dem Wesenskern von Simurgh beschäftigen. Was macht Simurgh wirklich aus? 

Simurghs Wesenskern

Eine zweite Meisterdichtung aus dem 11./12. Jahrhundert könnte Aufschluss über Simurghs wahres Wesen geben. Es handelt sich um die die Konferenz der Vögel ("Mantiq at-tair"), des mystischen Dichters Fariddudin Attar. 

In dieser Parabel begeben sich 30 (Persisch: „si“) Vögel ( Persisch: „murgh“) auf eine Reise. Sie suchen nach ihrem idealen Oberhaupt, das sich hinter dem entlegenen mythischen Berg Qaf befinden und den Namen „Simurgh“ tragen soll. Diese Vögel geben sich auf eine beschwerliche Reise und als sie endlich hinter dem Berg ankommen sind dort nur sie selber: Simurgh. 30 Vögel in einem. Die Dichtung beschreibt die beschwerliche Reise zu sich selbst und zu Gott.

Ist Gott weiblich? Männlich? Zwitter? Geschlechtsneutral? Genderfluid? Ist die Frage an sich nicht absurd, da Gott nicht mit weltlichen Geschlechtern oder Gendern beschrieben werden kann?

Doch was tun, wenn wir von den grammatikalischen Grenzen von Sprachen zur Wahl eines Pronomens gezwungen werden? Welches Pronomen wählen wir dann? Welches Pronomen wähle ich? Sagt meine Wahl des Pronomens nicht mehr über mich aus, über meine Perspektive, über den Zustand meiner Welt, als über das Nomen, über das ich spreche? Bin ich mir der Deutungsmacht bewusst, die ich dadurch, bewusst oder unbewusst, ausübe?

Meine Kollegin, die den Iran-Katalog 2021 übersetzte und editierte, entschied sich für „sie“. Im Ausstellungskatalog Iran. Kunst und Kultur aus fünf Jahrtausendenist Simurgh weiblich. Welches Pronomen wählen Sie?

 

Laura Beusmann – Mit Dank für die Hinweise an Franziska Bloch, Margaret Shortle, Eleanor Sims, Joachim Gierlichs und meine Freundin Mojgan Lajmiri im Iran 2022.