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Ein sogenannter kaukasischer Drachen-Teppich aus dem 17. Jahrhundert ist die Vorlage für den Projektteppich „ CulturalxCollabs. Weaving the Future“. Der Teppich wurde in der Kaukasusregion geknüpft. Ein Gebiet, dass heute Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Iran umfasst. Ein Drachen-Teppich – schön und gut – aber: Wo ist der Drache?
Um den Drachen zu entdecken, müssen wir uns auf Spurensuche begeben. Und dies nicht nur, weil der Teppich so stark zerstört ist und die Stellen, wo wir den Drachen finden würden, nicht mehr existieren, sondern auch, weil wir wissen müssen, wie ein Drache überhaupt aussieht. Also lautet die erste Frage: Wie sieht ein Drache aus?
Im Laufe der letzten 5000 Jahre finden wir in zahlreichen Kulturen das Fabelwesen Drache. Die ältesten Darstellungen stammen aus Mesopotamien und China. Drachen setzen sich je nach Herkunft aus unterschiedlichen Tieren zusammen. Ihr Erscheinungsbild ist so vielfältig wie es die Kombinationslust aus beispielsweise Schlange, Vogel, Fisch, Huftier, Raubkatze und Phantasie zulässt.
Wir können Drachen in zwei Gruppen einteilen: Schlangendrachen und Löwendrachen.
Schlangendrachen gehen, wie ihr Name verrät, auf Schlangen zurück. Ihr schlanker Körper zeigt ein aufgerissenes Maul mit scharfen Zähnen. Sie haben meist kleine spitze Ohren und Hörner. Löwendrachen dagegen unterscheiden sich durch einen weniger langen Körperbau. Besondere Merkmale sind ihre ausgeprägten Vorderpranken, ihre flammenartigen Flügel und der unterschiedlich lang gestaltete Schwanz.
In China ist der Drache seit dem 2. Jahrtausend vor Christus fester Bestandteil des Kunstschaffens. Aus dem 12. Jahrhundert ist eine chinesische Beschreibung im Wörterbuch Erh‑ya‑yi erhalten: „Geweih wie vom Hirsch, Kopf wie ein Kamel, Augen wie vom Dämon und Hals wie von einer Schlange, Bauch wie von der Muschel und Schuppen wie vom Fisch, Krallen wie vom Adler, Pranken wie vom Tiger und Ohren wie vom Rind.“
Auf den Handelsrouten über Zentralasien. Mit dem Handel von Gütern aller Art wurden auch die Drachendarstellungen verbreitet. Sei es auf Textilien, Metallarbeiten o.ä.
Die frühesten islamischen Drachendarstellungen aus dem 11. Jahrhundert finden sich auf Münzen. Klein und wertvoll reisten sie in den Taschen der Händler durch Vorderasien. Bereits 100 Jahre später finden sie sich in der dortigen Architektur, auf Holztüren, an Türgriffen oder auf Teppichen und Textilien.
In der islamisch geprägten Kunst beschreibt als erste al‑Qazwini, ein persischer Arzt des 13. Jahrhunderts in seiner Kosmologie die Drachen: „Ein Tier von gewaltig großer Körperform, furchtbarem Anblick, sehr langer und breiter Statur, großem Kopf, funkelnden Augen, weitem Maule und Bauche, mit zahlreichen Zähnen, das eine unberechenbare Anzahl von Geschöpfen verschlingt…“
Eine persische Miniatur aus dem 16. Jahrhundert verbildlicht das anschaulich. Die Kaukasusregion gehörte bis zum 16. Jahrhundert zu Persien. Ihre geografische Lage machten sie über Jahrhunderte zum Schmelztiegel zahlreicher künstlerischer, religiöser und politischer Einflüsse.
Von rund 150 weltweit bekannten kaukasischen Drachen-Teppichen aus dem 16.-18. Jahrhundert, besitzt die Berliner Sammlung fünf Teppiche bzw. Fragmente. Der älteste von ihnen lässt sich aufgrund seiner klaren Motive, exakten Zeichnung und des starken persischen Einflusses ins 16. Jahrhundert datieren. Die spitzen Rauten, die hier rot und gelb sind, gehen auf persische Einflüsse zurück. Typisch ist, dass der Drache immer im Zentrum einiger der spitzen Rauten eingeknüpft ist. Hier werden wir ihn auf unserem Teppich suchen müssen. Bei diesem frühen Stück sind die ursprünglichen Merkmale des Drachen gut erkennbar: aufgerissenes Maul, lange Zunge, geschuppte und gefleckte Haut, Flügel- oder flammenartige Fortsätze.
Auf dem Teppich, der als Vorlage für den Projekt-Teppich dient, ist der Drache nicht mehr erhalten. Ein Feuer hat den Teppich genau an diesen Stellen zerstört. Aber ein schwarz-weiß Foto gibt es noch.
Dass der Drache nicht zu erkennen ist, hat neben dem Erhaltungszustand des Teppichs, folgenden Grund: Wie bei dem Spiel „Stille Post“, bei der ein Wort geflüstert von Ohr zu Ohr wandert und jedes Mal weniger verstanden wird, ist auch das Muster des Drachens weitergegeben und weniger verstanden worden. Jede Wiederholung oder Kopie war schlechter als ihr Original. Die Wiederholung fand so oft statt, bis niemand mehr wusste, dass innerhalb der Raute eigentlich ein Drache eingeknüpft werden sollte. Da unser Teppich am Ende der „Stillen Post“ steht, also am Ende von rund zweihundert Jahren Drachen-Teppichproduktion im Kaukasus, ist das Motiv nicht mehr verstanden worden. Wie sollen wir es dann heute verstehen oder erkennen?
Vier der fünf Berliner Drachen-Teppiche veranschaulichen diesen Musterverfall deutlich. Der älteste Teppich (I. 3) ist aus dem 16. Jahrhundert. Die Drachen zeigen Schuppen, Flammenflügel, ein aufgerissenes Maul und Krallen. Auf dem Teppich I. 2 ist der Drache auch noch zu erkennen. Nicht aber auf unserem Projekt-Teppich. Der jüngste Teppich aus dem 18. Jahrhundert (I. 8/59) zeigt wieder einen erkennbaren Drachen.
Nur wenn die KnüpferInnen und auch wir die Geschichte des Drachen im Kaukasus kennen, sehen wir ihn, wenn er uns begegnet.