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Die 1980er standen ganz im Zeichen politischer Bewegungen, die in den 68ern ihre Wurzeln hatten. Die Angst vor Umweltzerstörung und atomarem Wettrüsten war allgegenwärtig und fand 1986 in der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ihren Höhepunkt. Derweilen prägten Fönfrisuren, Schulterpolster, Schlaghosen und Neonfarben das Stadtbild. Mit dem Putsch in der Türkei im Jahre 1980 flüchteten viele Menschen aus politischen Gründen nach Deutschland; so auch einer der wichtigsten Rockstimmen der Türkei: Cem Karaca. Zu den “Gurbet Türküleri”, den Volksliedern aus der Fremde als neuem Genre, kamen nach und nach eine Vielzahl neuer Musikrichtungen, wie Rock, Hip-Hop und Pop hinzu, die im Zeichen der Zeit standen.
Viele Gastarbeiter:innen in Deutschland kamen aus dem ländlichen Raum in der Türkei und befürchteten einen sozialen Abstieg durch die neuen Migrant:innen, die nun aus den Städten nach Deutschland flüchteten; sie waren politisch und häufig gebildeter als die ersten Gastarbeiter:innen.
Einer dieser "neuen Türken" war Cem Karaca, der nun auch auf Deutsch sang. Die Songtexte waren dabei häufig ein Sprachrohr für die politische Gesinnung der Musiker:innen. Mit der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik rückte das Thema Rassismus zunehmend in den Fokus der Liederzählungen türkeistämmiger Menschen.
Tauchen Sie ein in historische Bilder der 1980er Jahre aus dem WDR-Archiv und hören Sie Cem Karaca zu, wenn er singt: "Es kamen Menschen an".
Eine bekannte Stimme des Anadolu Rock (eine einzigartige Verschmelzung von westlicher Rock- und traditioneller türkischer Volksmusik) war der 1945 in Istanbul geborene Cem Karaca. Seine Biographie ist eine des politischen Exils: Nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei wurde ihm aufgrund seiner Musiktexte Volksverhetzung vorgeworfen, weshalb er ausgebürgert wurde. Karaca flüchtete nach Deutschland und fing an, auch auf Deutsch zu singen. In seinem 1984 erschienenen Album „Die Kanaken“ thematisierte er die prekäre Lage vieler Gastarbeiter:innen und den zunehmenden Rassismus gegenüber türkeistämmigen Menschen in Deutschland.
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen an
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen an
Man brauchte unsere Arbeitskraft
die Kraft die was am Fließband schafft
Wir Menschen waren nicht interessant
darum blieben wir euch unbekannt
Ramaramaramaramadah
Gastarbeiter
Ramaramaramaramadah
Gastarbeiter
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen an
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen an
Solange es viel Arbeit gab
gab man die Drecksarbeit uns ab
Doch dann als die große Krise kam
sagte man, wir sind Schuld daran
Ihr wollt nicht unsere Kultur
nicht mit uns sein Ihr wollt uns nur
als Fremde sehn so bleiben wir
Unbekannte dort wie hier
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen an
Es wurden Arbeiter gerufen
„Er ist drüben wirklich der Größte – hier kennt ihn niemand“, sagte Alfred Biolek im Oktober 1982, als er Barış Manço in der Sendung „Bios Bahnhof“ seinen Zuschauenden vorstellt. Ein unvergesslicher Moment für die 1,5 Millionen türkischsprachigen Menschen in Deutschland, den türkischen Superstar zur Primetime in der ARD zu sehen. Barış Manço, geb. 1943 in Istanbul, war einer der bedeutendsten Künstler der türkischen Musikgeschichte. Sein Markenzeichen waren seine langen Haare, sein Schnurrbart und sein Hippie-Kleidungsstil. Manço wurde neben Karaca als Pionier des Anadolu Rock berühmt. Obwohl er nie in Deutschland gelebt hat, war er für die große Mehrheit der Migrant:innen aus der Türkei politisch und musikalisch eine wichtige Stimme.
Der vielseitige Künstler variierte seinen Musikstil immer wieder und sang auch auf Englisch. Neben seinen großen Erfolgen in der Türkei schaffte er bereits in den 70ern seinen Durchbruch in den internationalen Musikcharts und wurde weltweit bekannt. So hielt sich seine 1976 veröffentlichte Single „Nick the Chopper“ vier Wochen auf Platz 1 der Charts in Großbritannien. Außerhalb der Türkei hatte er seine größte Fangemeinde in Japan. Neben seiner Musik setzte sich Manço für gesellschaftspolitische Themen wie Umweltschutz und Tierliebe ein und komponierte Kinderlieder, um ihnen die Liebe zu Tieren ans Herz zu legen. Das Lied „Arkadaşım Eşek” („Mein Freund der Esel“) gilt bis heute als eines der populärsten Kinderlieder der Türkei. Am 31. Januar 1999 starb Barış Manço an einem Herzinfarkt. Er erhielt ein Staatsbegräbnis, begleitet von Millionen von Fans.
Ebenso entfremdeten sich bereits in den 80ern viele von der alten “Heimat” Türkei. So singt das Duo “Derdiyoklar” in einem Song: “Helmut diyor pis yabancı, Tuğrul diyor Alamancı“ (Helmut nennt ihn dreckiger Ausländer, Tuğrul nennt ihn Deutschländer.) Das Dilemma, zwischen zwei vermeintlich gegensätzlichen kulturellen Identitäten zu stehen, wird immer stärker Gegenstand der Gurbet Şarkıları (Lieder aus der Fremde).
In diesem Lied "Liebe Gabi" singt das Duo Ali Ekber Aydoğan und İhsan Güvercin über ihre Probleme in Deutschland und sprechen eine fiktive Gabi an, die Deutschland symbolisieren soll; etwa wenn sie singen:
"Helmut Kohl und auch Strauß, liebe Gabi / Wollen Ausländer raus, liebe Gabi / Sind wir keine Menschen, liebe Gabi?"
Komm zu mir gel yanıma le le liebe Gabi
Etwas derdim var su diye le le liebe Gabi
Dert anlatmak zor kötüye le le liebe Gabi
Bilerek yaşamak varken le le liebe Gabi
Helmut Kohl und auch Strauss le le liebe Gabi
Wollen ausländer raus le le liebe Gabi
Bizler insan değil miyiz le le liebe Gabi
Severek yaşamak varken le le liebe Gabi
Şimdi birde vize cıktı le le liebe Gabi
Nice gönülleri yıktı le le liebe Gabi
Gurbetçiler dertten bıktı le le liebe Gabi
Gülerek yaşamak varken le le liebe Gabi
Derdiyoklar böyle gitmez le le liebe Gabi
Almanya'da baskı bitmez le le liebe Gabi
İch liebe dich demek yetmez le le liebe Gabi
Ölerek yaşamak varken le le liebe Gabi
Ozan Ata Canani, geb. 1963 in Maraş (Türkei), ist ein deutsch-türkischer Musiker, der mit 12 Jahren nach Deutschland kam. Drei Jahre später begann er sich in deutschen und türkischen Texten mit Problemen und Sorgen in der Fremde auseinanderzusetzen.
„Sie nennen uns Gastarbeiter und die Kinder dieser Menschen sind geteilt in zwei Welten, ich bin Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören?“ In seinem Song Deutsche Freunde von 1978 schreibt und singt Ozan Ata Canani für die „Drecks- und Müllarbeiter, Stahlbau- und Bahnarbeiter“ aus seiner Generation und will die deutsche Öffentlichkeit adressieren.
Ozan Ata Canani spricht im Film "Sounds aus der Seele" über seinen Song "Deutsche Freunde" und darüber, welche Botschaft er den deutschen Politikern damit überbringen wollte. Erst mehrere Jahrzehnte nach der ursprünglichen Veröffentlichung wird sein Lied erneut aufgenommen und ist als historisches Zeitzeugnis heute wichtiger denn je.
Arbeitskräfte wurde gerufen
Unsere deutsche Freunde
Aber Menschen sind gekommen
Unsere deutsche Freunde
Nicht Maschinen sondern Menschen
Aber Menschen sind gekommen
Unsere deutsche Freunde,
Freunde, Freunde,
Sie haben am Leben Freude
Aus Türkei, aus Italien,
aus Portugal, Spanien
Griechenland, Jugoslawien,
Kamen die Menschen hierher
Unsere deutsche Freunde
Kommen die Menschen hierher
Unsere deutsche Freunde,
Freunde, Freunde,
Sie haben am Leben Freude
Als Schweißer, als Hilfsarbeiter
Als Drecks- und Müllarbeiter
Stahlbau und Bandarbeiter
Sie nennen uns Gastarbeiter
Unsere deutsche Freunde
Sie nennen uns Gastarbeiter
Unsere deutsche Freunde,
Freunde, Freunde,
Sie haben am Leben Freude
Und die Kinder dieser Menschen
Sind geteilt ins zwei Welten
Ich bin Ata und frage euch
Wo wir jetzt hingehören
Unsere deutsche Freunde
Ich bin Ata und frage euch
Wo wir jetzt hingehören
Unsere deutsche Freunde,
Freunde, Freunde,
Sie haben am Leben Freude
Während in den ersten zwei Jahrzehnten der Arbeitsmigration nach Deutschland die meisten Gastarbeiter:innen aus der ländlichen Bevölkerungsschicht in der Türkei kamen, folgten im Zuge des Militärputsches und der politischen Umbrüche in der Türkei nun verstärkt andere Bevölkerungsgruppen: Menschen, die aufgrund ihrer politischen und/oder religiösen Überzeugungen sowie ihrer ethnischen Herkunft verfolgt wurden. Es kamen nun viele politisch verfolgte Kurd:innen, Alevit:innen, Oppositionelle, künstlerisch und musikalisch Tätige nach Deutschland, die nun keine klassischen "Gastarbeiter:innen" waren.
In den folgenden Interviewausschnitten können Sie einige persönliche Stimmen dazu hören.
Muharrem Dogan kommt aus der Stadt Malatya. Er ist kurdischer Alevit. Als Kind verliebte er sich in die Saz. Da sein Vater dagegen war, kaufte er mit 12 Jahren heimlich sein erstes Instrument und fing an, Saz zu spielen. Im Jahr 1982 wanderte er aus politischen Gründen nach Deutschland aus und ist seitdem politisch und sozial aktiv. Heute lebt Muharrem Dogan mit seiner Familie in Bonn. Er gibt Saz-Unterricht in unterschiedlichen alevitischen Vereinen, komponiert Musik und spielt unterschiedliche Saz-Arten, wie Tenbur, Oud und Meydan im Rahmen von Veranstaltungen.
Savaş Anul ist heute 50 Jahre alt und lebt mit seiner Familie in einem Ort nahe Hanau. Obwohl er in Frankfurt am Main geboren wurde, wuchs er bis 1980 in der Türkei bei seinen Großeltern auf. Seine Familie stammt aus Balıkesir in der Westtürkei. Heute ist er Mitglied der alevitischen Gemeinde Hanau, in der er und seine Frau sich zeitweise auch als Vorstandsmitglieder engagierten. Er übernimmt in seiner Gemeinde die Aufgabe des Zakir, also der Person, die den Gottesdienst auf der Saz musikalisch mitgestaltet.
Die ersten Gastarbeiter:innen aus der Türkei kommen nach Deutschland, eine sehnsuchtsvolle Reise beginnt.
Die Beschäftigung mit der eigenen Identität nimmt in vielen migrantischen Biographien immer größeren Raum ein und spiegelt sich in vielen Liedern wider. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die Musiker:innen zunehmend die deutsche Sprache wählen, um ihren Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Gefördert von KULTUR.GEMEINSCHAFTEN, bewahrt “Erinnerungenschaften – der Podcast für türkisch-deutsches Erinnern” postmigrantische Stimmen und lässt Menschen zu Wort kommen, die unsere gemeinsame Geschichte erlebt und geprägt haben.