Ausschnitt aus dem Film "Sounds aus der Seele" von Mirza Odabaşı (c) Museum für Islamische KunstAusschnitt aus dem Film "Sounds aus der Seele" von Mirza Odabaşı (c) Museum für Islamische Kunst

Von Federbetten zu Stroh - Die Sehnsucht beginnt

Die ersten Gastarbeiter:innen aus der Türkei kamen 1961 nach Deutschland. Mit ihnen begann eine beeindruckende Geschichte deutsch-türkischer Musik, die bis zum heutigen Tag viele Menschen berührt. Bereits in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft verliehen viele Gastarbeiter:innen dem Gefühl des Heimatverlusts musikalischen Ausdruck; etwa in den sogenannten Gurbet Türküleri („Volkslieder aus der Fremde“), die als spezielle Volksmusikrichtung neu entstand. Zunächst wurden diese Volkslieder nur mündlich weitergebeben und musikalisch von der Saz, einer traditionellen Langhalslaute, begleitet. Erst in den 1970er Jahren wurden diese Lieder auch aufgenommen und auf Tonträgern weiterverbreitet.

Doch wer waren die ersten Stimmen der türkischen Musikszene in Deutschland? Wie sah ihre Lebensrealität aus? Worüber sangen sie, was thematisierten sie in ihren Lieder? Und wie konnte ihre Musik verbreitet werden, lange bevor die ersten türkeistämmigen Musiker:innen von großen Plattenfirmen in Westeuropa wahrgenommen wurden?

Sounds aus der Seele - Ein Kurzfilm von Mirza Odabaşı

Unter der Regie des deutsch-türkischen Filmregisseurs, Songwriters und Fotografen Mirza Odabaşı entstand für unsere Sonderausstellung "Gurbet şarkıları - Lieder aus der Fremde" der bewegende Kurzfilm "Sounds aus der Seele - Musik zwischen Almanya und Deutschland", der jenen Wegen türkischer Musik in die sogenannte „Fremde“ nach Deutschland nachspürt. Im Film sprechen namhafte Musiker:innen wie die erste türkeistämmige Rapperin in Deutschland, Aziza A., sowie der Vertreter eines berühmten deutsch- türkischen Musiklabels über ihre musikalischen Biographien und ihre persönlichen Erinnerungen. Die Musik der im Film portraitierten Menschen hat eine Vielzahl von Menschen bis ins Tiefste berührt. Sie wurde zur Projektionsfläche von Sehnsüchten und Träumen, aber auch von Sorgen und Ängsten über den erlebten Rassismus - von den 60ern bis heute. 

Die Anfänge - "Gurbet Türküleri", Volkslieder aus der Fremde

Metin Türköz

Metin Türköz, geb. 1937 in Kayseri (Türkei), ist ein deutsch-türkischer Musiker und Volkssänger, der 1962 als Gastarbeiter nach Köln kam, wo er bis heute lebt. Mit seinem Instrument (Bağlama) und seiner Musik wurde er zur Stimme vieler Gastarbeiter:innen. Er klärte in seinen ‘Gurbet Türküleri’ (Volkslieder aus der Fremde) unter anderem über die Missstände der ersten Zeit in Deutschland auf und adressierte vor allem die türkische Öffentlichkeit.

Plattencover Metin Türköz (c) Turkofon
Plattencover Metin Türköz (c) Turkofon

Metin Türköz

Ein Deutschlandlied

“Saat 6 dır şimdi Köln’e geldik dediler.

Altı altı hepımızı koğuşlara verdiler.

Tüy yerine altıma ot yatağı serdiler.

Banyo tuvalet fabrika da dediler.

Alamanya, alamanya umduğun şeyi bulaman ya.”


zu Deutsch:


“Sie sagten, es ist 6 Uhr, wir sind in Köln angekommen.

In sechser Gruppen brachten sie uns in Baracken.

Statt einem Federbett breiteten sie unter uns Stroh aus.

Sie sagten, das Bad und die Toilette sind in der Fabrik.

Deutschland, Deutschland, das, was du erhofftest, findest du hier nicht.”

Gurbet Türküleri ─ Volkslieder aus der Fremde

Metin Türköz, der auch in "Sounds aus der Seele" portraitiert wird, war eine der ersten Gastarbeiterstimmen in Deutschland. Im Video, einer türkischsprachigen Reportage in WDR Cosmo, spricht er über seinen musikalischen Werdegang.

Es sind Originalaufnahmen aus seiner Zeit als Gastarbeiter zu sehen. Begeben Sie sich auf eine Zeitreise in die 60er und 70er Deutschlands, die von Sehnsucht und Hoffnung geprägt waren.

Stars der 1960er & 1970er Jahre

Yüksel Özkasap - Die Nachtigall von Köln

Yüksel Özkasap oder auch Köln'ün Bülbülü (zu dt. Nachtigall von Köln) gehört zu den bekanntesten Musiker:innen der ersten Gastarbeitergeneration. Sie kam 1966 als junges Mädchen nach Deutschland und beabsichtigte nur einige Monate zu bleiben. Doch sehr früh wurde sie in ihrer Leidenschaft zur Musik von der Kölner Plattenfirma Türküola entdeckt.

Yüksel Özkasap, Illustration von Elif Siebenpfeiffer © Museum für Islamische Kunst
Yüksel Özkasap, Illustration von Elif Siebenpfeiffer © Museum für Islamische Kunst

Gurbet Türküleri - Volkslieder aus der Fremde

Mit ihren Gurbet Türküleri (Volkslieder aus der Fremde) wurde sie in den 1970er Jahren ein Plattenstar. Özkasaps Musik wurde zum Trost für viele Gastarbeiter:innen, die weit weg von den Familien in der Fremde lebten.

Neşet Ertaş – ein „Aşık“ mit Kassettenladen

Neşet Ertaş gilt als einer der berühmtesten türkischen Aşık (zu dt. Volksliedsänger) der Nachkriegszeit. Der 1938 in Kırşehir in der Zentraltürkei geborene Sänger komponierte bereits als junger Mann Volkslieder. Ertaş verbrachte rund 20 Jahre seines Lebens in Deutschland.

Neset Ertas, Illustration von Elif Siebenpfeiffer © Museum für Islamische Kunst
Neset Ertas, Illustration von Elif Siebenpfeiffer © Museum für Islamische Kunst

Bereits als junger Mann komponierte Ertaş Volkslieder und ging seiner musikalischen Leidenschaft auch nach seiner Ankunft in Deutschland Ende der 70er nach - als er nach einer langen Krankheit in der Türkei seine Arbeit verlor.

Türkischer Basar – die neusten Kassetten aus der Türkei

Neşet Ertaş trat in Deutschland bei Musikveranstaltungen auf und betrieb in Berlin an der Bülowstraße ein eigenes Musikgeschäft bis zur Wende. Hier verkaufte er unter anderem die neuesten Kassetten aus der Türkei und gab Saz-Unterricht.

Yunus-Emre Gündoğdu – Persönliche Erinnerungen an einen Kassettenladen in Kreuzberg

Yunus-Emre Gündoğdu ist 1992 in Berlin-Neukölln geboren. Seine Familie kam 1968 im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Berlin und hat am Schlesischen Tor an der Cuvrystraße nahe der Berliner Mauer gewohnt. 1972 zogen sie als eine der ersten türkischen Familien nach Schöneberg. Dort wohnte er mit seinen Eltern, seinem Onkel und seiner Oma in einer gemeinsamen 2,5-Zimmer-Wohnung. Yunus-Emre Gündoğdu hat Englisch und Politikwissenschaft auf Lehramt studiert und arbeitet heute als Anti-Gewalt und Kompetenztrainer bei einem Träger in Berlin-Kreuzberg.

"Was wäre denn ohne Musik unser Leben?" – Stimmen und Geschichten zu Musik und Identität

Ayşen Hartings – Ihr Weg nach Deutschland

Ayşen Hartings ist 77 Jahre alt und kam in den 1960er Jahren als vollständig ausgebildete Lehrerin im Rahmen des Anwerbeabkommens aus Gaziantep nach Deutschland. Zunächst arbeitete sie im Sauerland als Näherin. Sie lernte innerhalb ihres ersten Jahres die deutsche Sprache und schaffte es, ihren Mann aus der Türkei nachzuholen. Kurze Zeit später zog sie nach Berlin und im Anschluss daran lebte sie in Hamburg. Nach der Trennung von ihrem Mann, der wieder zurück in die Türkei zog, blieb sie in Deutschland. Mittlerweile lebt sie in Frankfurt am Main und singt in einem Chor für türkische Kunstmusik.

Ayşen Hartings - Der ausführliche Podcast

Hören Sie hier den ausführlichen Podcast mit Ayşen Hartings von Maria Lotto. Die Podcasts entstanden in einem Kooperationsprojekt zur Ausstellung mit der Goethe Universität Frankfurt. Masterstudierende der Musikwissenschaft gehen in den Podcasts auf die Suche nach persönlichen Erinnerungen von türkeistämmigen Menschen an Musik und was sie in unterschiedlichen Lebensphasen für sie bedeutet hat.

Sait Sezgin – Konzerte aus der Heimat

Sait Sezgin, geb. 1944 in einem Dorf nahe Trabzon, ist 1970 mit 26 Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gezogen. Er arbeitete in verschiedenen Fabriken und war politisch sehr aktiv. Er engagierte sich in der Gewerkschaft und setzte sich für die Rechte der Gastarbeiter:innen ein. Darüber hinaus interessierte er sich für die Politik in seinem Heimatdorf und nahm am gesellschaftlichen Leben sowohl in der alten als auch in der neuen Heimat teil. Er verrichtete sein Leben lang verschiedene Arbeiten und ist heute Rentner in Kreuzberg, wo er seit über 30 Jahren mit seiner Frau lebt.

Sait Sezgin – Wie wichtig ist die Sprache der Musik?

Fatma Sezgin – Feiern mit Süßspeise und Musik

Fatma Sezgin, geb. 1952 in einem Dorf nahe Trabzon, ist 1971 als Gastarbeiterin nach Deutschland gezogen. Sie arbeitete in verschiedenen Fabriken und eröffnete mit Freund:innen später ein türkisches Restaurant. 1991 zog sie schließlich nach Berlin, um mit ihrem Mann und einer Verwandten ein Stehcafe nahe Schlesisches Tor zu eröffnen. Heute ist sie Rentnerin und lebt mit ihrem Mann in Kreuzberg. In ihrem Bezirk engagiert sie sich mit ihren Freundinnen in der Moschee und begleitet aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse, die sie sich selbst angeeignet hat, andere in der Nachbarschaft zum Arzt.

Fatma Sezgin – Ankunft und Herausforderungen in der Fremde


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