CulturalxCollabs: Fragment No. 64 highlighted © Museum für Islamische Kunst, Heiner BüldCulturalxCollabs: Fragment No. 64 highlighted © Museum für Islamische Kunst, Heiner Büld

Cultural x Collabs: Weaving the Future

Fragment No. 64

100 Fragmente. 100 Reisen

Dies ist ein Fragment des "CulturalxCollabs - Weaving the Future" Teppichs.

Mit dem Fragment folgen wir der Reise der Besitzer:innen und ihrer Collabs. Sie entdecken und experimentieren mit gesellschaftlich relevanten Themen, die sie auf kreative Weise vorantreiben.

Hier stellen wir Euch das Fragment vor, so wie wir es auf seine dreieinhalbjährige Reise schicken.

Folg dieser Story und erleb die Transformation des Fragments im Laufe der Jahre...

Die Reise beginnt...

...mit Nohelia Sanchez

Die Zukunft weben mit Fäden aus einer sich wandelnden Vergangenheit

Ich stelle mir mein Leben wie eines dieser Teppichfragmente vor: manchmal isoliert, manchmal mit anderen verflochten, immer die Erinnerung an ein größeres Gewebe in sich tragend, das mir vorausgeht und mich übersteigt. Orte und Menschen haben seine Muster geprägt, verbunden durch Fäden – verflochten mit ihren Unterschieden, Wunden, Schönheiten, Schatten und Unvollkommenheiten.

Ich habe viele Fragmente in den Teppich meines Lebens eingewebt. Jetzt, mit einer gewissen Reife, habe ich das Gefühl, dass ich endlich beginne, die Teile zusammenzufügen.

Eine kolumbianische „Semitin“

Ich habe mich immer tief mit semitischen Kulturen verbunden gefühlt. In Kolumbien werden alle Araber „Türken“ genannt, auch wenn die meisten libanesische Katholiken waren. Sie hatten helle Haut und hybride Traditionen und besaßen die Geschäfte, die die Stadt ernährten und ihr ein gutes Leben ermöglichten. Ich ging auf eine weiterführende Schule in einer Stadt, die ein bedeutender Hafen am Magdalena-Fluss war, der Kolumbien von Norden nach Süden durchquert. Seine strategische Lage machte ihn zu einem wichtigen Umschlagplatz für Händler – meist syrisch-libanesische und Paisas. Umgeben von üppiger Vegetation und extremer Feuchtigkeit war dieses Land reich an Öl, geplagt von korrupten Politikern und bewohnt von kämpferischen Menschen. Die perfekte Mischung für einen grausamen, endlosen Krieg.

In der neunten Klasse lernte ich jemanden kennen, die eine meiner besten Freund:innen wurde: die Tochter eines libanesischen Einwanderers. Ich glaube, ihr Vater war der erste Ausländer, den ich je traf, doch aus irgendeinem Grund kam er mir vertraut vor. Vielleicht verband uns das stille Wissen darum, dass auch ich in meinem eigenen Land eine Fremde war. In ihrem Haus fühlte ich mich immer wie in einer Familie. Meine Freundschaft mit ihr und ihren drei Brüdern wurde genährt durch nächtelange Gespräche in der Küche, begleitet von Pita, Hummus und Taboulé, importiert aus der libanesischen Gemeinde in Barranquilla.

Ozeane überqueren

Später führte mich das Leben erneut nach Westasien, und ich zog nach Israel, getrieben von Liebe und Abenteuerlust. In meinem Leben schien ich semitische Menschen magisch anzuziehen – Freunde, Kollegen, Liebhaber. In Israel blendeten mich die Ockertöne der Negev-Wüste und des Sinai-Gebirges; mein Herz schwang mit Ritualen und Bräuchen im Einklang. Meine semitischen Gesichtszüge und meine Fähigkeit, mich einzufügen, erzeugten eine Vertrautheit, die oft verwirrend war. Doch die Seele ist niemals verwirrt. Man mag in andere Länder reisen, aber die Seele weiß, wo sie geboren wurde. Ich war ein Andenkondor, der über einen Krieg flog, der nicht meiner war: den Krieg um das Überleben einer Nation, der in der Religion verwurzelt ist und die Entwicklung der Bindungen der Vorfahren mit unhinterfragbaren Traditionen und Forderungen zerstört.

Der Teppich meines Lebens verwandelte sich von einem figürlichen Wandteppich in ein abstraktes Muster, das ich nicht mehr als mein eigenes erkannte. Er forderte mich subtil auf, mich aufzulösen, in meinem persönlichen Territorium kolonisiert zu werden: in meinen Codes, meinen Gewohnheiten, der Sprache, in der mich meine Großmutter beten lehrte.

Ich webte Teile meines Teppichs mit Caña Flecha – einem widerstandsfähigen, vielseitigen Gras, das zu einem Hut werden kann, der dich vor der Sonne schützt, zu einer Tasche, die deine Erinnerungen trägt, oder zu einem Schmuckstück, das deine Schönheit ziert – und Teile mit Schafwolle aus den hohen Anden. Ich war bereits halb Gras, halb Wolle; nun wurde auch Leinen eingewebt.

Fragmente der Identität

Mich von außen zu betrachten, war verwirrend. Ich sah aus wie eine junge Marokkanerin, die in jeder heiligen Kirche betete, an schamanischen Ritualen teilnahm und Schabbat-Abendessen feierte. Das Gefühl der Entfremdung gipfelte, wenn jemand Salsa auf einer Party spielte – doch die eigentliche Krise kam, als ich versuchte, nach Hause zurückzukehren und feststellen musste, dass es fremdes Land geworden war.

Einige von uns haben das Privileg, selbst zu entscheiden, wann und wie sie migrieren. Ich war die Künstlerin meines Lebens, in der Lage, neue Muster nach Belieben zu entwerfen. Manchmal bestehen wir darauf, mit neuen Stoffen zu weben, inspiriert von neuen Orten, aber manchmal sind diese Techniken und Materialien inkompatibel. Das erzeugt eine erzwungene Entfremdung im Design. Man sieht es im fertigen Werk: ein so eng gewobener Fleck, dass er Wunden in deinen Händen hinterlässt, Einstiche in deinen Fingern, und am Ende wie ein unbeholfener, gezwungener Teppich aussieht.

Das verheißene Land, das ich im Namen der Liebe als Heimat meiner Träume erwartet hatte, verlangte von mir, etwas zu werden, das ich nicht sein konnte. Das verheißene Land meiner Träume war eines, in dem wir alle als die Samen wachsen können, die wir sein sollten, bereichert durch neue Fäden. Sobald deine Hände gelernt haben, neue Muster zu weben, ist es fast unmöglich, zum ursprünglichen zurückzukehren.

Migration als Widerstand

Doch Migration bedeutet noch etwas anderes. Sie schafft, selbst wenn sie nicht erzwungen ist, eine tiefe Wunde – im eigenen Leben und in dem der Menschen, die dich lieben. Aber sie ist auch ein Akt des Widerstands, des Überlebens und der Schaffung neuer Universen – wenn man wirklich einbezogen wird. In meinem Kopf klingen die Worte von Verna Myers nach: „Diversity is being invited to the party; inclusion is being asked to dance.“ Ich wollte meinen Lebens-Teppich weiterweben, indem ich Fasern aus neuen Rohstoffen einbezog, die mir andere schenkten. Neue Muster schaffen – manchmal widersprüchlich oder unharmonisch wirkend, aber ehrlich, reich an Einzigartigkeit und vor allem in ihrer ursprünglichen Identität verwurzelt.

Die Grenzen der Inklusion

Meine Utopie hatte Lücken. Inklusion hängt nicht allein von dir ab. Es gibt Grenzen. Du wirst nur so lange einbezogen, wie du dich einfügst. Du darfst nicht zu anders aussehen, nicht zu radikal denken, nicht zu einem anderen Gott beten. Du kannst zwar zur Party kommen, doch sitzt du an Tischen mit denen, die fürchten, dass ihr harmonisches Muster befleckt wird. Niemand sagt dir offen, was sie erwarten, doch du spürst es – du liest ihre Angst: die Angst, nicht jüdische Söhne zur Welt zu bringen, in christliche Wurzeln verdünnt zu werden. Liebe reichte nicht. Irgendwann fühlte ich mich durch eine dreifache gläserne Decke unterdrückt: als Frau, als Lateinamerikanerin, als „Shiksa“.

Der Tag, an dem ich den Süden zu meinem Norden machte

Eines Tages, als ich die Andenkarte betrachtete, hatte ich eine Offenbarung. Etwas von außen zeigte mir, dass der Süden mein Norden war. Ich beschloss, erneut zu migrieren – diesmal aus Liebe zu meiner Freiheit, in ein Land, das nichts versprach außer Tango, Wein und Rock’n’Roll: Argentinien.

Identität neu verweben

Virginia Higa erinnert uns in ihrer Auseinandersetzung mit migrantischer Identität daran, dass jedes Wort, jede Geste eine Verhandlung ist zwischen dem, was wir waren, und dem, was wir werden. Irgendwann entschied ich, dass ich keinen Teppich weben wollte, auf dem man herumtrampelt. Ich wollte eine Decke weben, die deine von Arbeit müden Schultern wärmt – eine Decke, die dich sanft vor dem patagonischen Wind schützt, während du in deine innere Welt eintauchst, die dich aber auch verspielt schmückt. Ich wollte mein eigenes Material entdecken, das erzwungene Gewebe auflösen und ein neues, weicheres Muster schaffen – eines, das die Geschichte erzählt, die ich mir selbst erzählen will. Und mehr noch: Ich wollte Worte verweben, in der Hoffnung, dass sie auch für jemand anderen Bedeutung haben.

Fragen zum kulturellen Weben

Während ich diesen Prozess gehe, frage ich mich: Können wir ein gemeinsames Werk weben, ohne Nuancen zu löschen, ohne Unterschiede zu zähmen oder andere zu kolonisieren? Kann Vermischung als eine Art kulturelles Shatnez gelten? Was bestimmt, welche Traditionen und Vermächtnisse überleben? Wer entscheidet über die Muster eines Teppichs? Sollte es nicht eine gemeinsame Arbeit sein?

Fragmente in Bewegung

Wir sind Fragmente in Bewegung, Träger von Geschichten, die nur Sinn ergeben, wenn sie geteilt und verflochten werden. Unsere Identität ist ein Werk im Entstehen: geprägt von Begegnungen, Verlusten, Migrationen und Kollaborationen. Sie darf nicht bombardiert werden – weder physisch noch symbolisch, unter keinem Mandat, Vorwand, Gesetz oder Werturteil. Und wenn es aus edleren und menschlicheren Gründen zerbricht, hat es das Recht und die Pflicht, neu verwoben, neu gestaltet und mit Gold wiederaufgebaut zu werden, wie es die Japaner mit Kintsugi tun.

Vielleicht bedeutet Schreiben – und Migrieren –, wie Ágota Kristóf meint, zu lernen, in der Fremde zu leben und aus der Entwurzelung eine Quelle der Schönheit und Bedeutung zu machen, nicht des Chaos und der Zerstörung.

Reflexionsfragen

Wie können wir die unsichtbaren Geschichten anerkennen und würdigen, die jedes Fragment unserer Kultur durch Zeit und Raum trägt?

Wie nähren und verweben wir unsere Persönlichkeiten, unsere Familien und unsere zukünftige Geschichte aus den unterschiedlichen Nuancen, die jede Kultur in unser Leben bringt?

Können wir Migration als Akt von Widerstand und Schöpfung verstehen, der Inklusion infrage stellt?

Können wir unsere Fäden oder die Art des Webens wählen, ohne auszuschließen?

CulturalxCollabs: Fragment No. 64 © Museum für Islamische Kunst, Heiner Büld

Schau genau

Vorne und hinten

Über das Projekt

Das Projekt des Museums für Islamische Kunst "CulturalxCollabs - Weaving the Future" feiert die transformative Kraft des kulturellen Austauschs und die gesellschaftlichen Verflechtungen, die uns alle vereinen. Alles, was wir lieben, geliebt haben und jemals lieben werden, stammt aus kulturellem Austausch, Migration und Vielfalt, oder wie wir es gerne nennen, #CulturalxCollabs.

100 Teppichfragmente, aus einer Replik des ikonischen Drachenteppichs geschnitten, werden die Welt bereisen (unterwegs mit DHL). Mit Hilfe der Collab-er werden die Fragmente #CulturalxCollabs bereichern, menschlichen Einfallsreichtum inspirieren, Gemeinschaft fördern und letztendlich zeigen, wie kultureller Austausch all unsere Leben bereichert.

Folg #CulturalxCollabs auf Instagram und erleb wie sich das Projekt entfaltet....

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Weaving the Future

Begleite uns auf eine Reise mit 100 Teppichfragmenten, die dreieinhalb Jahre lang rund um die Welt reisen, vorübergehende Zuhause finden und dabei kulturelle Grenzen überbrücken. Vereint durch die Kraft persönlicher Geschichten fördern die Fragmente eine weltweite Gemeinschaft.

100 Fragmente. 100 Reisen

"CulturalxCollabs - Weaving the Future" - 1 Projekt, 100 Teppichfragmente. Folge ihrer Reise mit den immer wieder wechselnden Besitzer:innen innerhalb der nächsten 3,5 Jahre.

Wo ist der Drache?

Ein kaukasischer Drachenteppich aus dem 17. Jh. - der Star des "CulturalxCollabs - Weaving the Future" Projekts. Aber wo ist der Drachen eigentlich?