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Die Erforschung der Herkunft (Provenienz) von Sammlungsobjekten gehört zu den Kernaufgaben eines Museums. Ein Teil der Fundstücke, der aus den Ausgrabungen von Samarra (heute Irak) am Anfang des 20. Jahrhunderts stammt, fand seinen Weg nach Berlin. Heute werden die archäologischen Artefakte im Museum für Islamische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin (früher Islamische Abteilung der Königlichen Museen zu Berlin) aufbewahrt und erforscht. Im Folgenden wird erklärt, wie die Stuckdekorationen, die die Bauten der Kalifenresidenz Samarra am Tigris schmückten, ihre Reise bis an die Spree antraten.
Das am Tigris liegende Samarra stand bis 1917 unter der Kontrolle des Osmanischen Reichs und befand sich in der Provinz Bagdad (Vilâyet Bagdad). Der Ort ist 125 km nördlich von der heutigen irakischen Hauptstadt Bagdad entfernt.
Samarra ist ein bedeutender Ort islamischer Geschichte und Kultur. Der achte Kalif der islamischen Dynastie der Abbasiden al-Muʿtasim (Regierungszeit: 833-42) gründete 836 die Residenzstadt Samarra. Diese löste damit zeitweilig Bagdad als Regierungssitz ab. Als Hauptstadt während seiner Blütezeit des Abbasiden-Kalifats spielte Samarra eine entscheidende Rolle im politischen, kulturellen und intellektuellen Lebens der islamischen Welt. Die Stadt wurde zum Zentrum von Kultur, Bildung und Innovation. Die über 50 km2 große Stadtlandschaft umfasst unter anderem mehrere Paläste und Moscheen sowie zahlreiche Wohnbauten.
Das Ruinenfeld von Samarra war eine der ersten systematisch erforschten und dokumentierten islamzeitlichen Ausgrabungsstätten ihrer Zeit. Zwischen 1911 und 1913 untersuchte der Architekt und Archäologe Ernst Herzfeld (1879–1948) in zwei Ausgrabungskampagnen den Ort.
Die Ausgrabungen in Samarra wurden hauptsächlich privat finanziert, unter anderem von Friedrich Sarre (1865–1945), dem Leiter der Islamischen Abteilung, und Wilhelm Bode (1845–1929), dem Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin. Obwohl die Ausgrabungen als Privatunternehmung Friedrich Sarres liefen, sollten die Funde den Berliner Museen zu Gute kommen. Die Königlichen Museen waren zu diesem Zeitpunkt bereits an mehrere archäologischen Unternehmungen im Osmanischem Reich beteiligt und befürchteten bei einer offiziellen Museumsunternehmung keine Lizenz für die Ausgrabungen in Samarra von den osmanischen Behörden zu erhalten.
Deshalb wurden die Ausgrabungen in Samarra auch anders als die zeitgleichen Unternehmungen in Assur und Babylon der Deutschen Orient Gesellschaft in Mesopotamien als ein Privatunternehmen Sarres geführt. Diese finanzierte er zum Teil selbst, aber auch Mitglieder seiner Familie und Kontakte seines Netzwerks waren als Geldgeber beteiligt.
Um die Umstände der Ausgrabung und des Exports des Fundmaterials aus dem Herkunftsland verstehen zu können, muss der geltende rechtliche Rahmen der jeweiligen Zeit betrachtet werden. Ausländische Interessent*innen konnten im Osmanischem Reich Lizenzen zum Zweck von Ausgrabungsaktivitäten erwerben, wie dies Friedrich Sarre für Samarra erwirkte. Diese waren jedoch nicht übertragbar. Zudem erlaubte das Antikengesetz von 1906 (Art. IV) keine Ausfuhr von archäologischen Artefakten aus dem Osmanischen Reich.
Mit ausgearbeitet hatte dieses Gesetz Halil Edhem Bey (1861–1938), der Generaldirektor der Kaiserlichen Museen in Konstantinopel (heute Istanbul), der für die Ausgrabungsangelegenheiten im Osmanischen Reich zuständig war.
Ernst Herzfeld (1879–1948) war ein deutscher Architekt und einer der ersten Wissenschaftler auf dem Gebiet der islamischen Archäologie. Neben seinen Forschungen in Mesopotamien beschäftigte er sich auch intensiv mit den Kulturen des alten Persiens. Bereits 1907/08 unternahm er gemeinsam mit Friedrich Sarre eine Forschungsreise durch die Euphrat-Tigris-Region (heute Südosttürkei, Syrien und Irak). Im Anschluss daran kristallisierte sich Samarra als vielversprechender Ort für eine archäologische Feldforschung heraus und Ernst Herzfeld wurde dessen lokaler Leiter.
Friedrich Sarre (1865–1945) war ein deutscher Kunsthistoriker und Kunstsammler. Seit 1904 leitete er die neugegründete Islamische Abteilung der Königlichen Museen. Unter anderem durch die Ehe mit seiner Frau Maria (geborene Humann), der Tochter des Ausgräbers von Pergamon Carl Humann, war Friedrich Sarre in der Archäologenwelt der damaligen Zeit gut vernetzt. 1907/08 unternahm er mit dem Architekten Ernst Herzfeld eine von ihm finanzierte Forschungsreise in das Euphrat-Tigris-Gebiet (heute Südosttürkei, Syrien und Irak), um eine geeignete Ausgrabungsstätte auszuwählen.
Wilhelm Bode (1845–1929), später auch Wilhelm von Bode, war ein deutscher Kunsthistoriker und ab 1905 Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin. Er begründete 1904 die Islamische Abteilung im Kaiser-Friedrich-Museum. Zudem unterstützte er die Ausgrabungen von Samarra (1911–1913) finanziell.
Halil Edhem Bey (1861–1938) war während der Ausgrabungen in Samarra der Generaldirektor der Kaiserlich Osmanischen Museen in Konstantinopel (1910–1931). Er war der jüngere Bruder des Archäologen und Malers Osman Hamdi Bey (1842–1910) sowie dessen Nachfolger. Mit Friedrich Sarre sowie dessen Frau Maria Sarre verband ihn eine lange private Freundschaft.
Fotos: Ernst Herzfeld 1925 in Persepolis. Foto: Henry Breasted jr. (gemeinfrei / public domain),
Friedrich Sarre um 1894. Fotograf unbekannt, Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Islamische Kunst,
Wilhelm von Bode. SMB-ZA, V-Slg. Personen, Bode, W. v,
Halil Edhem Bey um 1910. Foto: Anonymous (gemeinfrei / public domain)
Während der Ausgrabungen in Samarra traten eine Vielzahl von mit Ornamenten versehenen Stuckplatten zu Tage, welche einst die Wände verschiedener Bauten zierten. Um ihre Varianten und Motive zu studieren, zu bewahren und später im Museum präsentieren zu können, wurden die Originale von den Wänden abgenommen und Gipsabgüsse von ihnen angefertigt.
Diese Arbeit führten die beiden Gipstechniker der Königlichen Museen zu Berlin Theodor Bartus und Karl Beger aus, die dafür auch die Stuckdekorationen aus den dahinterliegenden Wänden sägten oder die Lehmziegelmauern komplett zerstörten, um an die Verzierungen zu gelangen. Im Anschluss wurden von ihnen Tonformen hergestellt, aus denen die Gipsabgüsse entstanden. Diese Methode hatte jedoch auch zur Folge, dass die Originalplatten zum Teil zerbrachen. Insgesamt sind zwischen 1911 und 1913 um die 300 Wanddekorationen abgelöst worden. Das geltende Antikengesetz von 1906 (Art. XVI.3) erlaubte den ausländischen Ausgräbern die Anfertigung von Gipsabgüssen, die auch außer Landes transportiert werden konnten.
Theodor Bartus (1858–1941) war seit 1888 Hilfsrestaurator am Berliner Völkerkundemuseum und nahm auch an den Turfan-Expeditionen seines Museums teil. In Samarra war er während der 1. Ausgrabungskampagne von Oktober bis Dezember 1911 mit von der Partie.
Karl Beger (1867–1930) war Mitarbeiter bei der Gipsformerei der Königlichen Museen. An der Samarra-Expedition nahm er während der 2. Ausgrabungskampagne von Februar bis Mai 1913 teil. Zudem arbeitete er später auch auf dem Tell Halaf als Gipstechniker bei Max von Oppenheim mit.
Nach Abschluss der Ausgrabungen in Samarra gelangten die Abgüsse und Originale der Stuckdekorationen neben anderen Funden auf dem Fluss-, See- und Bahnweg nach Berlin in die Islamische Abteilung der Königlichen Museen. Darunter waren, laut Friedrich Sarre, ca. 30 Exemplare der Originalwandplatten und ca. 60 Abformungen.
Im November und Dezember 1921 wurden sowohl die Originale als auch die Gipsabformungen der Stuckdekorationen im Museum inventarisiert und im Erwerbungsbuch der Islamischen Abteilung registriert. Sie sind dort unter den Nummern I. 3467 bis 3547 und I. 4524 bis 4528 aufgeführt und können hier eingesehen werden.
Nach dem Transport waren die meisten originalen Stuckdekorationen aber auch viele der Abgüsse zerbrochen im Museum angekommen und mussten erst einmal restauriert werden. 1922 wurde ein Teil von ihnen in den Ausstellungsräumen der Islamischen Abteilung im Kaiser-Friedrich-Museum (heute Bode Museum) aufgestellt und für die Besucher*innen in Szene gesetzt.
1922 erwähnt Ernst Herzfeld in einem Dokument die illegale Ausfuhr von Funden aus Samarra aus dem Osmanischen Reich. Darunter fielen auch eine Reihe von originalen Stuckdekorationen, zu denen er schreibt:
„Ich habe seiner Zeit einer großen Zahl von Abgüssen Originalen unterstellt, und Professor Sarre hat durch seine guten Beziehungen zu den osmanischen Museen eine nachträgliche Genehmigung dafür erwirkt. Wir besitzen also heute auch die Originale de jure, während ein Anspruch der Museen nur auf Abgüsse vorlag.“
Aktuell werden im Rahmen des Projekts „Legal – Illegal?“ die Umstände der Ausgrabungen in Samarra zwischen 1911 und 1913 und die Verbringung des Fundmaterials nach Berlin am Museum für Islamische Kunst untersucht. Dabei handelt es sich um ein Kooperationsprojekt mit dem Research Center for Anatolian Civilizations (ANAMED) der Koç Universität Istanbul, welches vom Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin initiiert wurde. Vergleichend mit Ausgrabungen anderer Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin (Samʼal - Vorderasiatisches Museum und Didyma - Antikensammlung), soll ein übergreifender Leitfaden zum Umgang mit archäologischen Sammlungsgut aus wissenschaftlichen Ausgrabungen im Osmanischen Reich entstehen.
Auf den ersten Blick lassen sich die originalen Stuckdekorationen und deren Abformungen nicht so einfach unterscheiden. Dieser Umstand wurde auch benutzt, die originalen Wandplatten unbemerkt aus dem Osmanischen Reich zu transportieren.
2012 fanden daraufhin im Rahmen des Projektes „Samarra und die Kunst der Abbasiden“ naturwissenschaftliche Untersuchungen statt, die das Rätsel lösen sollten. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden in die Museumsdatenbank der Staatlichen Museen zu Berlin integriert. Hier haben Sie selbst die Möglichkeit herauszufinden, hinter welcher Wandverzierung sich ein Original oder eine Kopie verbirgt. Falls Sie mehr über das Thema Samarra und das Museum für Islamische Kunst wissen wollen, schauen sie doch auch einmal hier vorbei.
Dieser Beitrag wurde von Stefanie Janke, Mitarbeiterin des Projekts „Legal - Illegal“ für den Tag der Provenienzforschung 2024 verfasst.
Was geschieht eigentlich hinter den Kulissen im Museum? Die Sonderausstellung "Samarra Revisited - Grabungsfotografien aus den Kalifenpalästen neu betrachtet" eröffnet einen sehr persönlichen Einblick der Mitarbeiter:innen in die Museumsarbeit.
Erstmals sind nun alle ca. 1.500 erhaltenen Glas- und Kunststoffnegative sowie Diapositive der zwei Ausgrabungskampagnen online zugänglich.
Diverse Stimmen aus und zu Samarra die ihre Erinnerungen und ihr Wissen darüber mit uns teilen.